Diese Erfahrungen führen seit einigen Jahren zu warnenden Stimmen, aber auch zu Forderungen nach Entlastung von Eltern.
Im Jahr 2011 wurden die Heilmittelrichtlinien geändert. Dies führte zu gravierenden Veränderungen. Wir haben diese deutlich negativen Entwicklungen in einem offenen Brief an den Deutschen Berufsverband Logopädie (dbl) beschrieben und veröffentlichen ihn hier noch einmal. Auf dem dbl-Kongress 2012 wurde deshalb durch die Mitglieder eine Internetplattform zur Infomation und Diskussion zu diesem wichtigen berufspolitischen Thema gefordert.
Der offene Brief erschien im Forum Logopädie im Mai 2012
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Behandlung
von Regelkindern in Einrichtungen?
An
den dbl, unsere Kolleginnen und Kollegen,
seit
der Veränderung der HMR 2011 beobachten wir eine Tendenz, die uns
Sorgen macht. Immer mehr Therapien für Regelkinder finden
regelwidrig in Kindergärten statt.
Einen
Eindruck von den Auswirkungen einer solchen ''Öffnung'', wie sie der
dbl im Positionspapier vom 16.1.12 als berufspolitisches Ziel
formuliert hat, auf unsere Arbeit konnten wir in Mönchengladbach im
Jahr 2011 beobachten.
Nach
den Presseerklärungen Anfang 2011 zur Neufassung der HMR kam es zu
einer verstärkten Tätigkeit von Logopäden und anderen
Heilmittelerbringern in Kindergärten unserer Stadt. Es wurden
zahlreiche ''Kooperationsverträge" geschlossen, und
logopädische Therapien von Regelkindern fanden verstärkt in den
Kindergärten statt. Ab Mai 2011 ging in den Logopädiepraxen unserer
Stadt, die nach den HMR-Richtlinien und Qualitätsvorlagen des dbl
arbeiten, die Anmeldezahl der Kinder fortlaufend zurück. Es gab fast
keine Anmeldungen von Kindern mehr.
Eine
Nachfrage bei den verordnenden Kinderärzten ergab, dass ganz normal
verordnet werde, es sogar deutliche Budgetüberschreitungen gebe.
Erst
eine Recherche in den Kindergärten klärte das Phänomen: Nur einige
wenige Praxen hatten in sehr vielen Kindergärten Logopäden
stationiert, die dort alle Kinder behandelten. Diese beriefen sich
auf die „unklare Formulierung der neuen HMR" und die
Notwendigkeit zur Therapie in Kindergärten durch die „veränderten
gesellschaftlichen Bedingungen", die eine Entlastung der Eltern
notwendig mache.
Die
Träger der Kindergärten warben auf ihren Homepages offen mit der
Möglichkeit, alle Therapien in den Einrichtungen anbieten zu können.
Daraufhin kam es zu Therapieabbrüchen in den Praxen, da die Eltern
„es ja jetzt auch im Kindergarten erledigen lassen konnten".
Dann kamen die ersten Anfragen von Eltern, ob wir dies nicht auch in
ihrem Kindergarten erledigen könnten, alle anderen Kinder würden ja
auch dort behandelt. Dies ist aber nicht möglich, denn die
sogenannten ''Kooperationsverträge" schließen die freie
Therapeutenwahl aus.
In
kurzer Zeit war in unserer Stadt fast ein Monopol entstanden. Wer mit
seiner Praxis in Kindergärten Regelkinder behandelt, hat Arbeit -
wer Therapien nur in seiner Praxis anbietet, steht vor existentiellen
Problemen. Besondere Qualifikationen, eine intensive Elternarbeit und
alle Kriterien zur Qualitätssicherung unserer Arbeit sind zur
Nebensache degradiert.
Realität
ist: ein Verdrängungskampf ohne echten Wettbewerb.
Unserer
Meinung nach besteht die Gefahr, dass nach den großen Bereichen
Erziehung, Ernährung und (Zahn)Hygiene, die in
Kindertageseinrichtungen "erledigt" werden, wir durch
Logopädie in der Einrichtung für Regelkinder und ohne Einbeziehung
der Eltern, diesen auch noch ihre unbestrittene Verantwortung
bezüglich der Sprachentwicklung ihrer Kinder abnehmen sollen. Diese
''Entlastung'' der Eltern scheint politisch gewollt und wird vom dbl
unterstützt.
Wir
erkennen, dass der dbl keine klare und verbindliche Stellung
einnimmt, sondern Raum für Auslegungen offenlässt.
Wir
sehen diese berufspolitische Ausrichtung des dbl sehr kritisch und
möchten mit diesem offenen Brief die Mitglieder über mögliche
Entwicklungen informieren und für die Brisanz sensibilisieren. Wir
glauben, dass die Mehrheit der Logopäden nicht nur wirtschaftliche
Aspekte verfolgt, sondern an nachhaltiger berufspolitischer
Entwicklung interessiert ist.
Bezüglich
der vom dbl zur Begründung angeführten "veränderten
gesellschaftlichen Bedingungen" machen wir in unseren freien
Praxen die Erfahrung, dass Eltern, o b w o h l sie berufstätig
sind, Wege finden, die Behandlungstermine einzuhalten, deren Verlauf
zu verfolgen und durch angeleitete Übungen zu Hause zu unterstützen.
Dadurch sind die Therapien wesentlich effektiver.
Wir
fordern den dbl auf, seine berufspolitische Ausrichtung zu überdenken
und seine Mitglieder über die Probleme der angestrebten
Veränderungen zu informieren.
Wir
fordern eine Mitgliederbefragung zu diesem Thema.
Wir
wollen nicht zu reinen Dienstleistern ohne Beziehung zu den Eltern
werden!
Wir
wollen die
freie Therapeutenwahl und die Vielfalt therapeutischen Arbeitens
erhalten!
Wir
wünschen uns ein starkes Engagement unseres Berufsverbandes in der
Sicherung der logopädischen Qualität, indem er sich g e g e n die
allgemeine gesellschaftliche Entwicklung einer „Entlastung“ im
Sinne eines Delegierens von Verantwortung an Dienstleister wendet.
Wir
geben unserer Besorgnis über diese angestrebte Entwicklung eine
Stimme und rufen alle Mitglieder auf, sich hierzu zu äußern,
Stellung zu beziehen und sich an der Diskussion aktiv zu beteiligen.
Unterschriften
der beteiligten Logopäden Mönchengladbach den 4.3.2012
Jörg
Abel, Christina Reimann, Gabriele Langen, Imogen Lindner, Julia
Oehmen, Annika Baumann, Tim Neeten,
Verena
Scheidweiler